Marieta Chirulescu

Marieta Chirulescu

Vernissage: Samstag, 25. September 2010, 19h
Pressebesichtigung: Freitag, 24. September 2010, 13h

Die Kunsthalle Basel freut sich, die erste Einzelausstellung von Marieta Chirulescu (*1974) ausserhalb Deutschlands präsentieren zu können, einer aus Rumänien stammenden Künstlerin, die in Berlin lebt und arbeitet. Die Ausstellung, in der sich neuere sowie erstmals gezeigte Arbeiten zu einer erweiterten Installation zusammenfügen, wird in der historischen Galerie im oberen Stockwerk der Kunsthalle – dem «Oberlichtsaal» sowie zwei kleineren Nebenräumen – gezeigt.

Bei einem Besuch im ehemaligen Haus ihrer Familie in Rumänien im Jahr 2006 entdeckte Chirulescu ein Archiv von Schwarzweissfotografien, die ihr Vater aufgenommen hatte und auf denen sein Leben in einer Studentenwohnung sowie seine spätere Arbeit als leitender Agraringenieur in einem staatlichen Betrieb für Apfelanbau dokumentiert waren. Herausgelöst aus ihrem historischen, beruflichen und persönlichen Kontext bilden diese Bilder, die nach den Worten der Künstlerin «ein Lob der Landwirtschaft, der Armut, des Alltags und der Improvisation» sind, einen Bestand, aus dem sich Chirulescu häufig bedient. Mit ihren technischen und gestalterischen Unvollkommenheiten sowie ihrem schlechten Erhaltungszustand boten diese Schwarzweissabzüge und -negative eine analoge Vorlage für die digital veränderten Bilder, welcher der Künstlerin als Material in ihrer Arbeit dienen.

Chirulescu schafft keine Abbilder, vielmehr bedient sie sich Bildern, um diese als Readymades zu präsentieren. Auch wenn ihre Arbeiten wie gemalt wirken mögen, handelt es sich bei den meisten von ihnen um Drucke – mit Ausnahme von «Ohne Titel (Studio Loop)» (2010), das mithilfe von rechteckigen Schablonen mit Gesso und Grafitstift auf Leinwand ausgeführt wurde. Alle anderen Arbeiten sind mittels verschiedener, oftmals miteinander kombinierter Druck- und Kopierverfahren hergestellt: auf Diasec aufgezogene Laserchrome- Prints, Inkjet-Prints auf Leinwand, auf Leinwand befestigte Fotokopien, Drucke von gescannten Schwarzweissarchivfotografien und –negativen sowie eine Vielzahl von digitalen Drucken, die auf mit Photoshop manipulierten Daten basieren. Chirulescu verwendet moderne Reproduktionstechniken, um die Originale aus dem Sediment der Kopien freizulegen. Indem sie die leere Unterseite der Scanner-Abdeckung oder eine auf das Kopiergerät gelegte Glasplatte kopiert, bewahrt sie den rechtlinigen Referenzrahmen, der unsere Sichtweise und unser Verständnis der Welt bestimmt und der kennzeichnend ist für jedes Gemälde, jedes Fenster, jeden Spiegel, jedes Haus und jedes Buch – doch während Chirulescu an Rahmen und Raster festhält, tilgt sie die meisten identifizierbaren Referenten. Die «Sujets» ihrer Arbeiten sind daher keine Abbildungen der realen Welt, sondern Nachbilder und Reflexionen des «technischen Unbewussten» von Scannern und Kopiergeräten, oder es sind Aufzeichnungen von unmittelbaren Ereignissen in der nichtmenschlichen Umwelt, wie etwa durch Bildbearbeitungssoftware entstandene digitale Fehler. Beispielsweise wurde auf einem unbetitelten Inkjet-Print aus diesem Jahr ein Bogen rauen, schwarzen Papiers so gescannt und vergrössert, dass ein Gewebe aus weissen Linien auf dem scheinbar undurchdringlichen schwarzen Monochrom zum Vorschein gebracht wurde. Die meisten Werke sind ohne Titel, einige tragen kategorisierende oder beschreibende Untertitel in rumänischer Sprache, zum Beispiel «oglinda» (Spiegel), «brânză» (Käse), «forma 2» (Form 2) oder «spatiul gri» (grauer Raum) – bei der letztgenannten Arbeit handelt es sich um den von einer digitalen Reproduktion eines im Internet gefundenen abstrakten Gemäldes angefertigten Druck. Vielfach arbeitet Chirulescu mit Photoshop, um die Bildstruktur zu untersuchen; sie löscht die digitalen Daten, fügt ihnen Unschärfe hinzu und setzt sie neu zusammen. In einer unveröffentlichten Äusserung bemerkte die Künstlerin, dass sie sich «auf Unregelmässigkeiten, technische Probleme, die verblassende Wirklichkeit, schwarze Ränder, abgeschnittene Ränder usw. konzentriert» sowie untersuchen will, wie «ein gegebenes automatisches System wie Photoshop reagiert, wenn es auf verschiedene Arten von Dateien und auf verschiedene Arten von (abstrakten) Bildern angewendet wird».

Die sichtbarste und zugleich einfachste Arbeit der Ausstellung ist das skulpturale Objekt «Block» (2010) – ein grösserer, lang gestreckter weisser Kubus aus bemaltem MDF, der wie eine Bank in Wandnähe steht, die sich gegenüber derjenigen befindet, an der die meisten zweidimensionalen Arbeiten präsentiert werden. Hinter der Skulptur zieht sich ein mit Teer bestrichener Papierstreifen über den Fussboden. Die mittelgrossen, zweidimensionalen Arbeiten scheinen auf den ersten Blick die Themen der Malerei und Skulptur des zwanzigsten Jahrhunderts zu rekapitulieren: die geometrische abstrakte Kunst des Konstruktivismus, die Zufallsverfahren und der mystische Symbolismus des Surrealismus, die Skripturalität des abstrakten Expressionismus und die industrielle Sparsamkeit der Formen des Minimalismus. Doch bei näherer Betrachtung wird eine weitere, weitaus beiläufigere und unmittelbarere, jedoch historisch gesehen kaum weniger bedeutsame Quelle erkennbar, aus der sich Chirulescus Praxis speist – die modernen Verfahren der technischen Reproduktion. Sowohl die nichtsubjektiven, absoluten und konkreten Formen der geometrischen Abstraktion als auch die subjektiv-universellen und emotionalen Zeichen der nichtgeometrischen Abstraktion richteten sich – ebenso wie die Abwertung des Originals zugunsten der Kopie und des Bildes zugunsten des Textes durch Minimalismus und Konzeptualismus – gegen den Glauben an die Wahrheit realistischer Repräsentation und die Singularität des Kunstobjekts als metaphysisches Götzenbild und kapitalistische Ware. Die Spannung zwischen ungegenständlicher Kunst einerseits und einer Kunst andererseits, die sich freimütig angeeigneter Bilder bedient (angefangen bei Andy Warhols frühen, von der Modeindustrie inspirierten Zeichnungen bis zu Gerhard Richters auf Fotografien basierenden Gemälden der Reihe «18. Oktober 1977»), ist in der Kunst des zwanzigsten Jahrhunderts von entscheidender Bedeutung – und in diesen Diskurs stellt Marieta Chirulescu ihre Arbeit mit der Absicht, ihn zusätzlich zu komplizieren. Nach dem letzten Bild gibt es nur noch weitere.

< Online-Artikel zur Ausstellung auf Artline

Die Ausstellung wurde unterstützt vom Rumänischen Kulturinstitut Titu Maiorescu.

Marieta Chirulescu, wurde 1974 in Sibiu (Rumänien) geboren, sie lebt und arbeitet in Berlin. Einzelausstellungen: Galerie Micky Schubert, Berlin (2010); Projektraum Temporäre Kunsthalle, Berlin (2009); Kunsthalle Mainz (2009). Gruppenausstellungen (Auswahl): Fade Into You, Herald St, London (2010); The hoax is a hoax or may or may not be, Galerie Carlos Cardenas, Paris (2010); La preuve concrète/ The Concrete Proof, Centre Européen d’Actions Artistiques Contemporaines, Strasbourg (2009); Gesang von Abschied und Neubeginn, Mayerei, Karlsruhe (2009); Max Hans Daniel present, Autocenter, Berlin (2009); Against Interpretation, Studio Voltaire, London (2009); Marieta Chirulescu / Sascha Hahn, Galerie Kienzle & Gmeiner, Berlin (2009); Nothing to say and I am saying it, Kunstverein Freiburg (2009); Marieta Chirulescu / Claudia Kugler, Galerie Sima, Nürnberg (2009); Out of Line, Galerie Kienzle & Gmeiner, Berlin (2008); Marieta Chirulescu / Manuela Leinhoss, Dicksmith Gallery, London (2008); Ulla Rossek / Marieta Chirulescu, samsa project room , Berlin (2008); Im Lichte milder Verklärung, Galerie Kienzle & Gmeiner, Berlin (2008).