Lili Reynaud Dewar

Interpretation

Texte und Musik von Sun Ra
Erzählung von Mireille Rias
Soundsystem von Sam Supa-Sonic
Kostüme von Mathieu Bernard

Vernissage: Samstag, 17. April 2010, 19h
Pressebesichtigung: Freitag, 16. April 2010, 12h

Die Kunsthalle freut sich, mit Interpretation ein neues Projekt von Lili Reynaud Dewar (geb. 1975, La Rochelle, Frankreich) zu präsentieren.

Der Titel von Lili Reynaud Dewars Ausstellung kann auf spezifische und allgemeine Weise verstanden werden. Ganz spezifisch ist „Interpretation“ der entliehene Titel einer Komposition von Sun Ra, einem afroamerikanischen Musiker, Komponisten, Bandleader und Autor von maschinengeschriebenen Pamphleten, mit denen er seine unkonventionellen Ideen zu Religion, Gesellschaft und Politik verbreitete. Sun Ra wurde 1914 als Herman Poole Blount geboren und änderte seinen „Sklavennamen“ 1952 in Sonny El Ra, woraus später Sun Ra wurde. Seine vielseitige Praxis beeinflusste den Free Jazz und inspirierte die musikalische Avantgarde, doch bleibt er wohl am besten für seine einzigartige Bühnenpräsenz in Erinnerung, sowie für die grossartige Bild- und Formensprache, welche er für das Sun Ra Arkestra – seine Band, mit der er von 1950 bis zu seinem Tod 1993 spielte – entwickelte. Sun Ra schöpfte aus so unterschiedlichen Quellen wie dem Freimaurertum, der Bibel, der ägyptischen Sonnenmythologie und der Avantgardekunst des 20. Jahrhunderts und war der Inbegriff eines disziplinen-übergreifend arbeitenden Künstlers. Er verkündete, dass er ausserirdischen Ursprungs und die afroamerikanische Identität ein Mythos sei, wodurch er seine öffentliche Person zu einer emanzipatorischen Stellungnahme gegen die vorherrschende Rassentrennung und die rassistische Politik in den Vereinigten Staaten der 1950er und 60er Jahre machte.

Wenn der Titel Interpretation – ein Titel auf dem Album The Solar-Myth Approach: Vol. 2 von Sun Ra aus dem Jahr 1971 – auf das Improvisieren und Experimentieren als Leitprinzipien für eine neue Musik verweist, evoziert er auch die Deutung von Mythen oder Zukunftsträumen. In dieser Ausstellung von Reynaud Dewar (und in ihrem gesamten Werk) ist die Idee der Interpretation jedoch ein Weg, sich historisches kulturelles Material und ästhetische Objekte anzueignen; sie ist eine produktive Form des Verstehens, die einen vertrauten Inhalt so verändert, dass er auf neue Arten vermittelt werden kann.

Letztendlich ist die „Interpretation“ eines bestehenden Skripts oder einer Partitur wesentliches Element in jeder Performance, so auch bei Lili Reynaud Dewar. Die Künstlerin konzipiert ihre Installationen häufig als Anordnungen für Performances, die entweder live vor einem Publikum aufgeführt oder auf Video aufgenommen und später in die Installationen eingebunden werden. Sie setzt Skulpturen, Texte, visuelle Zeichen und Fotografien ein – aber auch Musiker und Schauspieler, deren Ausdruck beschränkt wird und die gewissermassen die Rolle von „Lautsprechern“ übernehmen, da sie Texte vorlesen. Wie die Künstlerin bemerkte: „Ich positioniere die Charaktere so, wie ich Objekte platzieren würde, bis zu einem Punkt, wo man sagen könnte, das Mädchen ist bemalt und die Objekte tragen zu viel Make-up.“

In Reynaud Dewars neuer Arbeit in der Kunsthalle Basel wird der Oberlichtsaal mit einer geometrischen Holz-Spiegel-Struktur und einem thronartigen, mit afrikanischem Stoff bedeckten Stuhl bespielt. Beide beschwören die Bühnendekorationen von Sun Ra, während sie gleichzeitig auf die Möbel der Memphis-Gruppe des italienischen Designers Ettore Sottsass verweisen, welche Reynaud Dewar in einer kritischen Übereinstimmung mit Sun Ras extravaganter Haltung sieht. Innerhalb der geometrischen Struktur sehen wir eine Videoaufnahme von Mireille Rias, der Mutter der Künstlerin. In einem kunstvollen Kostüm à la Sun Ra sitzt sie auf dem opulenten Stuhl und berichtet von ihrem Besuch eines Sun Ra Konzerts in Saint-Paul de Vence am 3. August 1970, während sie nun, fast 40 Jahre später, den damals entstandenen Aufnahmen lauscht. Das Video zeigt nicht nur ihre persönliche Erfahrung von Sun Ras Auftritt, sondern setzt das Konzert auch in Beziehung zum gesellschaftlich-kulturellen Kontext einer Zeit, als musikalische und künstlerische Ideen revolutionäre Bedeutung hatten und „Free Jazz!“ ein Aufruf zu sozialer Veränderung war. In einer neuen Serie von Zeichnungen übertrug Reynaud Dewar den Originaltext von Sun Ras Pamphleten mit Bleistift auf grosse graue Kartonblätter. Sie sind von monumentaler Erscheinung, imitieren aber die auratische Qualität der A4-Originale in Maschinenschrift nicht. Der historische Text wird so zu einer konkreten Botschaft und ist nicht mehr ein blosses Archivdokument.

In der Vergangenheit haben die Projekte von Lili Reynaud Dewar die Anfänge des Kinos erforscht (Black Mariah, 2009), das Leben und die Arbeiten von Sottsass (In Every Room There is the Ghost of Sex, 2008), das obsolet gewordene Wissen der Stenotypisten (The Power Structures, 2009–10) und die ehemaligen Sklavengemeinschaften im Jamaika des 19. Jahrhunderts (The Center and The Eyes, 2006). Zu solchen Projekten gehört intensive Recherche und eine Ausdehnung über den Rahmen abgeschlossener, einmaliger Ausstellungen hinaus. Durch den Gebrauch von ungewöhnlichem, manchmal antagonistischem historischen Material, sowie dem Einbezug ihrer persönlichen Geschichte, befragt Reynaud Dewars Arbeit beständig den Begriff der Herkunft sowie die Beziehung zwischen der eigenen Identität und der eigenen Arbeit.

Lili Reynaud Dewars Ausstellung in der Kunsthalle Basel umfasst Original-Texte und -Musik von Sun Ra. Sie wurde in Zusammenarbeit mit Mathieu Bernard (Kostüme), Sam Supa-Sonic (Soundsystem) und Mireille Rias (Erzählung) entwickelt. Die Künstlerin möchte John Corbett und Anthony Elms für ihr Buch The Wisdom of Sun Ra: Sun Ra’s Polemical Broadsheets and Streetcorner Leaflets (2006, WhiteWalls) ihre Bewunderung aussprechen.

Im Anschluss an die Ausstellung erscheint eine Publikation.

Sowohl die Ausstellung als auch die Publikation erhielten grosszügige finanzielle Unterstützung von der LUMA Stiftung.

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Lili Reynaud Dewar wurde 1975 in La Rochelle geboren und lebt und arbeitet derzeit in Paris. Sie studierte an der Ecole Régionale des Beaux Arts de Nantes und schloss ihren Master an der Glasgow School of Art ab.
Einzelausstellungen (Auswahl): 2010 Frac Champagne Ardennes, Reims; Interpretation, 1m3, Lausanne; 2009 Power Structures, Rituals & Sexuality of the European Shorthand-Typists, Mary Mary, Glasgow; Black Mariah, Centre d’art Parc Saint-Leger, Pouges les Eaux; 2008 IAO, Explorations in French psychedelia, CAPC, Bordeaux; LOVE = U.F.O, Lili Reynaud-Dewar, FRAC, Bordeaux; The Race, Galleria Civica d’Arte Contemporanea di Siracusa, Montevergini.
Gruppenausstellungen (Auswahl): 2010 Morality: ACT VII – Let Us Compare Methodologies, Witte de With, Rotterdam; 2009 Je n’étais pas qu’une simple chimère, SBC gallery, Montréal; The Pursuit of Pleasure (mit Latifa Echakhch), Barriera Fundazione, Turin; La Suite, Air de Paris, Paris ; Kerhaus-Abschied von Stabilen Wanden, Westfälischer Kunstverein, Münster; Les Formes Féminines, Triangle Galerie de la Friche Belle de Mai, Marseille; 2008 Printemps de Septembre, Toulouse; Prix Ricard, Fondation d’entreprise Ricard, Paris; 5. berlin biennale für zeitgenössische kunst.